Aktuell, Wirtschaft

Atomkraft in Belgien: Ausstieg vom Ausstieg?

Atomkraftwerk Tihange
Wallonie.be

Von Reinhard Boest

Die belgischen Atomkraftwerke bleiben in den Schlagzeilen. Es ist weiterhin unklar, ob und wann welcher der verbleibenden fünf Meiler vom Netz gehen soll und ob und wie die Stromversorgung in der Zukunft gesichert sein wird. Die Politik der Föderalregierung lässt einen eindeutigen Kurs vermissen, und innerhalb und außerhalb der Koalition werden sich widersprechende Forderungen lauter. Hinter dem 2003 per Gesetz beschlossenen Ausstieg aus der Atomkraft stehen immer mehr Fragezeichen.

Nachdem bereits im September 2022 der Meiler Doel 3 (bei Antwerpen) nach vierzig Betriebsjahren endgültig vom Netz ging, wurde am 31. Januar auch Tihange 2 (bei Huy) abgeschaltet, ohne dass es spürbare Auswirkungen auf die Energieversorgung gab. Die Stilllegung ist anscheinend in Deutschland auf mehr Aufmerksamkeit gestoßen als in Belgien; vor allem im Grenzgebiet gab es seit vielen Jahren Kritik wegen wiederholter Störfälle.

Für die anderen Meiler wird der im Jahr 2003 per Gesetz festgelegte Zeitplan nicht eingehalten. Für den 1975 in Betrieb genommenen Block Tihange 1 wurde schon 2012 die Laufzeit um zehn Jahre bis 2025 verlängert; 2015 folgte die entsprechende Entscheidung für Doel 1 und 2.

Anfang Januar wurde es „amtlich“, dass das 2003 per Gesetz festgelegte Datum 2025 für den endgültigen Ausstieg aus der Atomkraft nicht eingehalten werden wird: die Regierung und der Betreiber der Kraftwerke, das französische Unternehmen Engie Electrabel, einigten sich grundsätzlich darauf, die Laufzeit der beiden „jüngsten“ Meiler (Doel 4 bei Antwerpen und Tihange 3 bei Huy, beide seit 1985 am Netz) um zehn Jahre bis 2036 zu verlängern. Die Verhandlungen über die Details gestalten sich schwierig (Belgieninfo berichtete).

Seit dem vergangenen Freitag ist zudem fraglich, ob diese Verlängerung ausreicht, um in den kommenden drei Wintern die Stromversorgung Belgiens sicherzustellen. Der Stromnetzbetreiber Elia befürchtet vor allem im Winter 2025/26 eine Versorgungslücke. Doel 4 und Tihange 3 sollen nämlich im Sommer 2025 bis November 2026 für den Weiterbetrieb nachgerüstet werden und stehen daher für diese Zeit nicht zur Verfügung. Um diesen Ausfall zu kompensieren, soll jetzt geprüft werden, ob die Meiler Doel 1 und 2 sowie Tihange 1 über 2025 hinaus für einen begrenzten Zeitraum weiter laufen können.

Das „Kernkabinett“ – eine Art Koalitionsausschuss der regierenden Vivaldi-Koalitionsregierung – hat Premierminister Alexander De Croo und Energieministerin Tinne Van der Straeten beauftragt, zusammen mit Engie Electrabel bis Ende März eine Machbarkeitsstudie zu erstellen. Sie soll dann von der föderalen Atomaufsicht AFCN geprüft werden. Dabei geht es vorzugsweise um einen Streckbetrieb, das heißt die Nutzung der vorhandenen Brennstäbe über einen längeren als den bisher geplanten Zeitraum. Ziel ist ein Reservebetrieb bis zum Ende des Winters 2026/27. Wie der frankophone Fernsehsender RTBF berichtet, hat sich Engie sehr skeptisch zur Realisierbarkeit des Vorhabens geäußert. Fraglich ist auch, ob für eine Verlängerung eine neue Betriebsgenehmigung (mit einem aufwendigen Verfahren) erforderlich ist.

Die Entscheidung des Kernkabinetts hat die seit längerem schwelende Debatte über die Atomenergie wieder voll entfacht. Föderalministerin Petra De Sutter (Groen) betonte im flämischen Fernsehsender VRT, dass es nur um eine befristete Verlängerung als Reserve gehe; das Ausstiegsgesetz von 2003 werde dadurch nicht in Frage gestellt. Dagegen sehen sich vor allem die flämischen und frankophonen Liberalen von Open VLD und MR in ihrer Forderung bestätigt, die Frage der Atomenergie grundsätzlich neu zu bewerten. So fordert der Open VLD-Parteivorsitzende Egbert Lachaert eine Verlängerung von zehn Jahren für Tihange 1; der Reaktor sei „technisch noch in einem guten Zustand“ (was viele auf der anderen Seite der Grenze wohl anders sehen). Außerdem brauche man ein neues Ausstiegsgesetz mit neuen Fristen. Für MR-Parteichef George-Louis Bouchez muss die Versorgungssicherheit oberste Priorität haben, und der Vorsitzende der flämischen Christdemokraten (CD&V), Sami Mahdi, sieht die künftige Energieversorgung Belgiens in einer Kombination von erneuerbaren Energien und Atomkraft. Für Konfliktstoff in der Vivaldi-Koalition ist also gesorgt.

In diesem Zusammenhang ist vielleicht ein Blick über den Zaun von Interesse: Auch in Frankreich nimmt die Debatte über die Zukunft der Atomkraft gerade wieder Fahrt auf. Trotz des Ausfalls vieler Reaktoren in den vergangenen Monaten (so dass Belgien mit Stromlieferungen aushelfen musste) will Präsident Emmanuel Macron sein Nuklearprogramm intensivieren und beschleunigen. Damit bricht er endgültig mit dem Ziel seines Vorgängers François Hollande, den Atomanteil an der Stromerzeugung zugunsten der erneuerbaren Energien deutlich zu reduzieren (hier ist Frankreich hoffnungslos im Rückstand). Bis 2043 sollen in Frankreich sechs neuartige sogenannte EPR-Reaktoren mit geschätzten Kosten von rund 52 Milliarden Euro fertiggestellt werden. Der Prototyp in Flamanville (Normandie) ist allerdings noch immer nicht in Betrieb und hat alle Zeitpläne und Kostenrahmen gesprengt. Bis 2043 müssen also viele der heutigen Meiler am Netz bleiben, von denen dann etwa die Hälfte 60 Jahre oder älter sein werden. Die damit verbundenen Sicherheitsfragen sind noch nicht beantwortet. Die zuweilen als Alternative genannten „kleinen modularen Reaktoren“, auf denen auch in Belgien manche Hoffnungen ruhen, werden wohl als Prototypen nicht vor 2030 verfügbar sein.

Auch wenn die bereits beschlossene Verlängerung der Laufzeiten von Doel 4 und Tihange 3 vorrangig mit den Auswirkungen des russischen Angriffskriegs begründet wird, dürfte es auch an Versäumnissen der belgischen Politik seit der Grundsatzentscheidung von 2003 liegen, dass die Energieversorgungssicherheit jetzt in Frage steht. Premierminister De Croo zeigte sich Anfang Januar zuversichtlich, dass Belgien bis zur jetzt geplanten Abschaltung im Jahr 2036 über eine verlässliche Energieversorgung aus anderen Quellen verfügen werde. Das ist ohne einen stabilen, von den wesentlichen politischen Kräften im ganzen Land getragenen Kompromiss allerdings schwer vorstellbar.

 

Leave a Comment

Ihre E-Mail-Adresse wird veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

*

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.