Geschichte

„14-18“: Große Gefühle im Großen Krieg

180914_14-18_0Während die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg sich in Deutschland weitgehend außerhalb der breiteren öffentlichen Wahrnehmung abspielt hat er sich als „Groote Oorlog“, also „Großer Krieg“, tief in das kollektive Gedächtnis Flanderns eingegraben. Der Einfall deutscher Truppen in das neutrale Belgien auf dem Weg zum Hauptkriegsgegner Frankreich hat in Städten wie Leuven (Löwen) tiefe Wunden geschlagen. In Leuven gingen in diesem ersten „Furore Teutonico“ neben über 1000 niedergebrannten Häusern mit der weltberühmten Universitätsbibliothek unzählige mittelalterliche Handschriften, Bücher und Inkunabeln verloren. Die Angaben über die Anzahl der zu Tode gekommenen Soldaten und Zivilisten sind je nach Blickwinkel unterschiedlich, auch wegen der gleichzeitig ausgebrochenen Spanischen Grippe, die ebenfalls zahlreiche Menschenleben forderte. Sie gehen aber in jedem Falle in die Millionen.

Nicht zuletzt da auf dem heutigen deutschen Staatsgebiet zwischen 1914 und 1918 kaum Kriegshandlungen stattfanden, überwiegt dort die Erinnerung an die Gräuel des verlorenen Zweiten Weltkrieges weit über diejenige des Ersten. In Belgien ist es genau anders herum. So verwundert es kaum, dass der Ereignisse vor 100 Jahren in Brüssel, Flandern und der Wallonie intensiv und mit ganz unterschiedlichen Veranstaltungen gedacht wurde. Im flämischen Fernsehen VRT lief mit „In Vlaamse velden“ (http://www.een.be/programmas/in-vlaamse-velden) eine aufwändig inszenierte zehnteilige TV-Produktion mit den beeindruckenden Hauptdarstellerinnen Barbara Sarafian und Lize Feryn, die es unbedingt verdient hätte, zum Beispiel als Weihnachtsmehrteiler Eingang in deutsche öffentlich-rechtliche Fernsehprogramme zu finden. In Lüttich, wo mit Antoine Fonck der erste belgische Soldat fiel, kamen auf Einladung des Königs der Belgier am 4. August zahlreiche europäische Staatschefs zu einem würdigen Gedenken zusammen, an dem auch Bundespräsident Joachim Gauck und sogar ein Heeresmusikkorps der Bundeswehr teilnehmen konnten. Das Ganze wird begleitet von der eindringlichen, noch bis zum 31. Mai 2015 zu sehenden Ausstellung „Ich war 20 in 14“ im ICE-Bahnhof Lüttich-Guillemins (http://www.liegeexpo14-18.be/expo14-18/index.php/de/austellungen/1914warich20). Ein 800 Meter langer Rundgang führt dort den Besucher durch realistische Weltkriegsinszenierungen wie einen 30 Meter langen Schützengraben mit Ton- und Lichteffekten, ein bombardiertes, niedergebranntes und bis ins letzte Detail rekonstruiertes Haus sowie an eine Kapelle, an der eine Exekution von Zivilisten zu sehen ist.

Naheliegender Weise beteiligt sich auch das „Königliche Museum der Armee und für Kriegsgeschichte“ am Brüsseler Jubelpark neben dem belgischen Triumphbogen „Cinquantenaire“ am diesjährigen Gedenken. „Expo 14-18, Das ist unsere Geschichte“ (http://www.expo14-18.be/en) lautet der programmatische Titel einer Zusammenstellung militärischer Exponate aus dieser Zeit. Das Stadtmuseum der Hauptstadt zeigt noch bis zum 3. Mai 2015 eine Ausstellung über die Besatzung der belgischen Hauptstadt, die den vielsagenden Titel „Brüssel tickt deutsch“ trägt (http://www.2014-18.be/de/nachrichten/brüssel-tickt-deutsch). Immerhin haben aus dieser Zeit die von den Deutschen eingeführte Sommerzeit und der Personalausweis bis heute überlebt. Die aktuelle Gedenkkultur kann man als nachvollziehbare Verarbeitung der Geschichte begreifen auch mit einem 1918 geschlagenen Nachbarn im Osten, der nur gut zwei Jahrzehnte später ein weiteres Mal als Kriegsmaschinerie die Grenzen überrollte. In Deutschland sucht man ähnliches natürlich vergebens, mit Ausnahme der nüchternen Aufarbeitung „Der Erste Weltkrieg 1914-1918“ im Deutschen Historischen Museum in Berlin (http://www.dhm.de/ausstellungen/der-erste-weltkrieg.html). Die Bundesregierung hatte auf die Frage nach ihrem Gedenken zum Ersten Weltkrieg durch Regierungssprecher Steffen Seibert nur lapidar ausrichten lassen, sie sei „für Geschichte nicht zuständig“. Die früheren Kriegsgebiete, also Flanderns Felder nicht nur entlang der Ijzer (Yser), sind in diesem Jahr auch von den ganz wenigen noch lebenden Veteranen auch aus den damals mit Belgien verbündeten Nationen vor allem des Commonwealth ebenfalls gut besucht.

 

„14-18“: Ein Musical über den Ersten Weltkrieg

Den Höhepunkt an Mut, Innovation und Kreativität beim Gedenken an den Ersten Weltkrieg findet man jedoch seit dem 20. April 2014 etwa eine halbe Autostunde nördlich von Brüssel in einer Stadt, in der auch der katholische Primas von Belgien seinen Sitz hat. In Mechelen in der Provinz Antwerpen wurde eine Messehalle zu einem Musicaltheater umfunktioniert. Ein Musical über den Ersten Weltkrieg? „Muss nicht sein“, so eine Reaktion aus Deutschland. Wer aber dort war, kann nur vollkommen anders darüber denken. Wobei es die Bezeichnung „Musical“ auch nicht wirklich trifft. Laut Eigenwerbung handelt es sich bei „14-18“ in der etwa 2000 Zuschauer fassenden Mechelner Nekkerhalle um ein „Spektakel-Musical“ (http://www.1418.nu/). Da nach dem zweihunderttausendsten Besucher der Andrang nicht nachließ, wurden für den gesamten September noch weitere Vorstellungen anberaumt, an Wochenenden bis zu drei. Dies ist eine für Flamen ungewöhnliche Begeisterung, die stets in stehenden Ovationen für das Ensemble endet.

Dabei enthielten sich die Autoren des Stücks um den Laurence-Olivier-Preisträger und Regisseur Frank Van Laecke (www.frankvanlaecke.be) vollkommen eines erhobenen Zeigefingers in Richtung ehemaliger Feinde. Dies gilt übrigens auch für sämtliche anderen belgischen Gedenkveranstaltungen. Vielmehr geht es in Mechelen um große Gefühle im Großen Krieg, im Stück auch für manche Deutsche und von manchen Deutschen. Gefühle, die mit opulenten Bildern unterlegt werden. Nicht zuletzt deshalb stellen weder die niederländische Aufführungssprache wie auch Ticketpreise zwischen 45 und 85 Euro für kaum jemanden eine Hürde dar. In „14-18“ geht es schlicht um die Frage, ob und wenn ja, wieviel Menschlichkeit einen Krieg überleben kann. Unweigerlich kommen einem Bilder aus Syrien und der Ukraine in den Sinn.180914_14-18_1

Die Musik mag die übliche Musical-Kost sein, aber die ungewöhnlich aufwändige technische Umsetzung sucht ihresgleichen: bewegliche Zuschauertribünen, Pyrotechnik, echte Pferde und Oldtimer auf der Bühne neben einer qualitativ wie quantitativ erstklassigen Besetzung, bei der sogar die Kinderrollen neben den schon stark besetzten Hauptrollen auf einer 150 Meter breiten Bühne beeindrucken. Schon der Zuschauerraum zeigt die Liebe zum Detail plus je nach Gusto VIP-Restaurant oder den in Belgien allgegenwärtigen, ebenfalls erstklassigen Fritten und Bier. Nach Mechelen wird es Aufführungen auch in englischer Sprache geben. Auf einen Erfolg dieses Musical-Spektakels könnte man auch in London oder den USA wetten. Aber in Deutschland und auf Deutsch? Immerhin wird in einer der Schlussszenen das Weihnachtslied „Stille Nacht“ in dieser Sprache begonnen, das dann in einen mehrsprachigen Chor übergeht.

Trotzdem ist „14-18“ in Mechelen gerade für Deutsche eine besondere Erfahrung. Brüssel als europäische Hauptstadt gehört inzwischen zum politischen Alltag der Bundesrepublik. Da vergisst man schnell, dass in den deutsch-belgischen Beziehungen diesseits der Ardennen bis vor nicht allzu langer Zeit weitaus mehr Skepsis herrschte. „In meiner Heimatstadt Dinant“, berichtet der bald scheidende Botschafter des Königreichs Belgien in Berlin Renier Nijskens exklusiv gegenüber „The European Circle“, „wird an einem Denkmal in der Innenstadt jährlich eines Massakers gedacht, bei dem zu Beginn des Ersten Weltkrieges 674 Einwohner der Stadt von sächsischen Truppen der deutschen Armee wegen angeblicher Freischärlerei getötet und 750 Gebäude zerstört wurden.“ Aber erst seit sich 2001 die Regierung der Bundesrepublik Deutschland zu ihrer moralischen Verpflichtung bekannte, sich dafür offiziell bei den Nachkommen der damaligen Opfer zu entschuldigen, sind Deutsche auch offiziell zu diesem Gedenken eingeladen. An manchen Orten ist der „Große Krieg“ bis heute in lebendiger Erinnerung geblieben.

 

Text und Titelfoto Thomas Philipp Reiter, Foto 2 (c) Luk Monsaert

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