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Belgien, ein Zufallsprodukt/1. Teil: Gründe für die aktuelle Staatskrise

65b7a718e7Ist Belgien am Ende? Viele stellen diese Frage, aber niemand vermag eine Antwort zu geben. Auch Freddy Derwahl nicht, der in Eupen als freier Schriftsteller und Journalist lebt. Er nennt Hintergründe für die bisherige Unfähigkeit der belgischen Politiker, eine Föderalregierung zustande zu bringen. Sein Fazit: “Man kann nicht länger zusammen zwingen, was nicht mehr zusammen gehören will.” Dieser Beitrag ist inzwischen drei Jahre alt und noch immer gültig. Einige Namen haben sich allerdings geändert.

Ein aufmerksamer Leser hat mich in diesem belgischen Herbst darauf aufmerksam gemacht, dass Caesars im „Gallischen Krieg“ geäußertes Kompliment, die Belgier seien „die tapfersten aller Gallier“, eine zweischneidige Sache sei. Gebildete Kreise in Brüssel hätten ihn schon vor Jahrzehnten darauf aufmerksam gemacht, dass diese Selbstbeweihräucherung einem unvollständigen Zitat entlehnt sei. Eifernde Patrioten unterschlugen offenbar die Einschränkung des römischen Feldherrn, dass es sich bei diesen belgischen Helden in den Wäldern der Ardennen zugleich um „Säufer, grobe Querulanten und Dummköpfe“ gehandelt habe.

Lüsternes Wunschdenken

Wie immer auch die Geschichtsschreiber diesen Vorgang kommentieren mögen, er erinnert in seinem Gegensatz von nationalistischer Eloge und beißendem Spott an all jene Belgien-Porträts, die in den vergangenen Jahren in kulinarischen Magazinen, Hochglanz-Revuen und Reiseführern verbreitet worden sind. Vorzugsweise EU-Korrespondenten, die, ähnlich wie die Moderatorin des „Heute-Journal“, Marietta Slomka, von Brüsseler Frittenbuden und Wochenenden im mondänen Seebad Knokke-le-Zoute schwärmen, haben nach Arbeitsessen in den Fressgassen des „Ilot sacré“ ein Belgien-Bild verbreitet, das einer Legende entspricht und weitgehend lüsternem Wunschdenken entstammt.

Der amerikanische Autor Arthur Frommer verglich Belgien mit einem „Meisterwerk aus der Bruegel-Zeit“. Der weitgereiste ZDF-Reporter Carl Weiss beschrieb das Königreich als ein kostbares Gewebe aus einem Gobelin des „goldenen Zeitalters“ Europas. Die für deutsche Blätter aus Brüssel berichtende GE-Autorin Rosine de Dijn schwärmt von Belgien als einer „sinnlichen Verführung“. Die aus der Reise-Redaktion der „Brigitte“ nach Antwerpen übergesiedelte Schriftstellerin Marion Schmitz-Reiners entdeckte in ihrer neuen Heimat einen „Fremden in ihrem Bett“ und Zustände wie im alten Babel.

Belgien wirkt aus dieser Sicht wie ein guter Wein. Namensschild und Herkunft scheinen etwas angestaubt, doch ist er in stillen Jahren zu einer Qualität der europäischen Extraklasse gereift. Belgien, jenes sympathische Produkt historischer Zufälle, entstammt zwar der gehobenen Langeweile des 19. Jahrhunderts und musste seinen ersten König Leopold aus dem fernen Sachsen erst flehendlich bitten, den fragwürdigen Job anzunehmen, doch lag ja der besonderer Reiz der neuen Nation darin, zwar nicht zu existieren, jedoch längst da zu sein.

Barrikaden, Bauern

„Traditionsreiches europäisches Herzland“, loben die späten Bewunderer. Da bedarf es keiner pingeligen Chronologie und Gründerdaten. Es gibt Länder, die leben längst bevor die Staatsrechtler sie entdeckt haben. Meist sind es die schönsten. Doch liegt ein Großteil der belgischen Tragik darin begründet, dass sich die gerne auf Paragraphen reitende Politik dieser Schönheit bemächtigt hat und die konsternierten Bürger machtlos mit ansehen müssen, wie das, was sie für eine Heimat hielten, in der es sich sehr gut leben lässt, offenbar unaufhaltsam zerredet, zerrissen und zerstört wird. Es geschieht nicht von ungefähr und ist allen Beteiligten gleichsam anzulasten. Seit jeher fehlt es dem kleinen Land an Seriosität, ohne die kein Staat zu machen ist.

Die Entstehung des Königreiches gleicht einer Seifenoper, die eine Revolution schildert, die zwischen Barrikaden und Biertheken stattfand, und von der lange Zeit nicht feststand, ob mehr gekämpft oder gelacht worden ist. Der Historiker Léopold Génicot nannte den Aufstand gegen die pietistischen Oranier in schamhafter Untertreibung „zufällig, aber dennoch siegreich“. Tapfer waren allein einige Journalisten und kleine Leute, die für nationale Siegesfeiern meist nicht in Frage kommen. Für eine landesweite Begeisterung, die einer Staatsbildung eine stabile Grundlage geben kann, mangelte der spannende Stoff.

Obwohl sich der neue Monarch redlich bemühte, die außenpolitische Kuriosität dieses neutralen Unikums würdevoll zu kaschieren, fehlte den Belgiern der Glaube an sich selbst. Dazu hat auch nicht zuletzt die Lebenslust Leopold II. beigetragen, der sich zwar den Kongo als Privatbesitz in die Tasche steckte, Renommierprojekte aufrichtete und hochadlige Damen beglückte, jedoch sein Königreich als eine frankophone Herrschaft über einige tumbe flämische Kartoffelbauern missverstand. Dies übrigens mit der ausdrücklichen Zustimmung der Bourgeoisie von Antwerpen, Gent und Brügge, die an der Schröpfung der riesigen Kolonie und ihren Aktienpaketen der wallonischen Schwerindustrie massiv mitverdiente. Ähnlich wie bei der Operetten-Revolution vor der „Monnaie“ mussten die Proleten aus Seraing und die „flamins“ aus Limburg erneut die Knochen hinhalten.

Dies galt nicht minder im 1. Weltkrieg, vor dessen Ausbruch der deutsche Kanzler Bethmann-Hollweg im Berliner Reichstag die neutrale belgische Unabhängigkeit als einen „Fetzen Papier“ bezeichnet hatte.

Autor: Freddy Derwahl

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