Aktuell, Verkehr

Wird die Metro 3 unter dem Palais du Midi begraben?

© STIB/Metro 3

Von Reinhard Boest

Seit drei Jahren ist in Brüssel das Gebiet zwischen Gare du Midi und der Avenue de Stalingrad eine riesige Baustelle. Hinter gelb-blauen Bauzäunen wird gegraben und betoniert für einen Abschnitt und eine neue Haltestelle (Toots Thielemans) der künftigen Metrolinie 3, die einmal Albert im Stadtteil Saint-Gilles und Bordet in Evere verbinden soll.

Belgieninfo hat bereits mehrfach über dieses große,in den Augen der Kritiker zu große Projekt berichtet (zuletzt im März 2022). Ihr erstes Teilstück – zwischen Albert und Gare du Nord – sollte nach den ursprünglichen Planungen eigentlich im Jahr 2024 in Betrieb gehen. Schon seit mehr als einem Jahr ist jedoch klar, dass weder der Zeitplan noch der Kostenrahmen eingehalten werden kann. Wer den Fortgang verfolgt, wird festgestellt haben, dass die Arbeiten für den Tunnel unter dem Boulevard Jamar und der Avenue de Stalingrad und auch der Umbau der Station Albert weit fortgeschritten sind. Beim schwierigsten Abschnitt – der 120 Meter langen Unterfahrung des Palais du Midi – herrscht jedoch seit einem Jahr völliger Stillstand. Es hat sich herausgestellt, dass der Untergrund des Bauwerks die Anwendung der ursprünglich vorgesehenen Bauweise (Verpressung von Beton in das Erdreich für die Tunnelwände) nicht erlaubt. Außerdem ist offenbar im Untergeschoss des Gebäudes nicht genügend Platz für die Baumaschinen, die fûr diese Arbeiten gebraucht werden.

Seither streiten die Brüsseler Nahverkehrsgesellschaft STIB als Bauherr und die Baufirmen über Verantwortungen und mögliche Lösungen. Das Firmenkonsortium rechnet für die Fortführung der bisherigen Arbeiten mit einer Kostensteigerung auf 180 Millionen Euro (nur für diesen Teil des Tunnels) und einer Bauzeit von weiteren acht Jahren. Das hält die STIB nicht nur für unrealistisch, sondern auch für unakzeptabel. Die Situation sei den Baufirmen bekannt gewesen, daher könnten sie sich jetzt ihrer Verantwortung nicht entziehen. Die andere Option ist ein teilweiser Abriss des Palais du Midi (bis auf die Fassaden), so dass man den Tunnel in der herkömmlichen offenen Bauweise realisieren kann. Die Kosten würden dadurch vielleicht (etwas) weniger steigen und die Bauzeit sich weniger verlängern. Dafür müsste man in die Substanz des Gebäudes eingreifen, was Fragen über den Wiederaufbau, seine Kosten und die künftigen Nutzungen aufwirft. Käme es zu einem Rechtsstreit, wäre das Projekt womöglich auf viele Jahre blockiert.

Unter dem derzeitigen Zustand haben vor allem die Bewohner und Gewerbetreibenden des betroffenen Stadtviertels zu leiden. Zahlreiche Geschäfte insbesondere entlang der Avenue de Stalingrad sind seit Beginn der Arbeiten in ein Containerdorf ausgelagert (wenn sie nicht schon aufgegeben haben). Weitere werden folgen, wenn die Arbeiten im Palais du Midi weitergehen – und es ist völlig offen, für wie lange noch. Wortmeldungen in den von der STIB regelmäßig organisierten Bürgerpanels zeugen zunehmend von Unverständnis, Verzweiflung oder Wut.

Auch die politische Debatte nimmt an Schärfe zu, wie eine Anhörung der STIB im zuständigen Ausschuss des Brüsseler Regionalparlaments und eine Befragung der zuständigen Regionalministerin Elke Van den Brandt (Groen) in diesen Tagen belegen. Obwohl das gesamte Projekt von Anfang an unter verschiedenen Aspekten umstritten war, war man mit der Grundsatzentscheidung über den Baubeginn anscheinend der Meinung, das “Gröbste” überstanden zu haben, das heißt Fakten geschaffen zu haben, die das Vorhaben unumkehrbar machen.

Das sich jetzt abzeichnende verkehrspolitische und finanzielle Desaster fordert schwerwiegende Entscheidungen: Für die Region Brüssel-Hauptstadt als Trägerin der STIB steht ein Schlüsselprojekt des öffentlichen Nahverkehrs auf dem Spiel; die Stadt Brüssel muss sich ihrer Verantwortung als Eigentümerin des Palais du Midi und für die städtebauliche Entwicklung des gesamten Viertels stellen. Dabei ist offensichtlich, dass es für beide um eine Entscheidung zwischen Pest und Cholera gehen wird.

Die Regionalregierung kann das Projekt “Metro 3” eigentlich nicht aufgeben, da es nach ihrer eigenen Einschätzung ein strukturierendes Element für das städtische Nahverkehrsnetz ist und die erwarteten Verkehre insbesondere aus dem Raum Schaerbeek/Evere durch die bisherige Tramlinie 55 nicht bewältigt werden können. Die Gefahr ist allerdings groß, dass durch die Kostenexplosion mit dem Tunnel unter dem Palais du Midi der Druck wächst, auf den Nordteil zwischen Gare du Nord und Bordet zu verzichten (wofür es im Übrigen noch nicht einmal eine förmliche Baugenehmigung gibt). Damit wäre aber auch der Abschnitt zwischen Albert und Gare du Nord in Frage gestellt, denn ein solcher Metro-“Inselbetrieb” hätte kaum einen Mehrwert. Er wäre im Gegenteil für viele Nutzer eher unattraktiv, die dann jeweils umsteigen müssten, um ins Zentrum zu kommen, statt wie bisher direkt etwa mit den Premetro-Linien 3 und 4 zu fahren.

Für die Stadt Brüssel stellt sich vor allem die Frage, welche Auswirkungen sich für das Viertel ergeben, das bisher von der Bevölkerungsstruktur und dem Zustand der Gebäude nicht zu den bevorzugtesten gehört. Der Palais du Midi im Zentrum dieses Viertels ist eher nicht wegen seiner baulichen Besonderheiten schützenswert – er wurde schon zu seiner Entstehungszeit zwischen 1875 und 1880 als “desaströs” bezeichnet. Es geht vielmehr um die vielfältigen Nutzungen vor allem durch Geschäfte, Schulen und Sporteinrichtungen, die für das Viertel prägend sind. Ein auch nur teilweiser Abriss würde diese Strukturen beeinträchtigen, und es ist nicht sicher, dass sie nach einem Wiederaufbau wiederkehren. Kritiker werfen der Brüsseler Stadtregierung vor, dass sie ohnehin eine Gentrifizierung des gesamten Viertels mit seiner auch für Touristen attraktiven zentrumsnahen Lage anstrebe. Müsste im Zuge des Tunnelbaus ein Abriss erfolgen, könnte man anschließend die Wiederherstellung von der Region finanzieren lassen statt sie als Eigentümer selbst bezahlen zu müssen.

Kritiker des Projekts nutzen die Gelegenheit, um erneut ihre Vorschläge für eine Alternative zur Metro zu präsentieren, insbesondere eine Erhaltung der bestehenden Prémétro und deren stärkere Nutzung durch weitere Tramlinien für umsteigefreie Verbindungen ins Zentrum.

In gut einem Jahr wird in Brüssel eine neue Regionalregierung gewählt. Es ist kaum vorstellbar, dass das Thema Verkehr inklusive Metro 3 dabei keine Rolle spielt. Warten wir also ab, ob vorher noch Entscheidungen getroffen werden, wie es 2019 geschah: Zwei Tage vor der Wahl wurden durch Erteilung der Baugenehmigung für die Station “Toots Thielemans” Fakten geschaffen…

 

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