Politik

Neues Verhandlungskapitel in der unendlichen Geschichte der belgischen Regierungsbildung

Von Michael Stabenow.

Über 450 Tage sind seit der belgischen Parlamentswahl vergangen – und noch immer ist keine handlungsfähige Regierung in Sicht. Zu Beginn der Woche betraute König Philippe einen weiteren Politiker mit dem Auftrag, die „erforderlichen Initiativen“ für „eine Regierung mit einer breiten Mehrheit im Parlament“ zu ergreifen. Egbert Lachaert, Chef der flämischen Liberalen (Open VLD), soll es nun richten. Er versprach umgehend, in aller Diskretion daran zu arbeiten. Zehn Tage hat der 43 Jahre alte Juristen für einen ersten Zwischenbericht zur Verfügung. Tatsächlich sind alle Blicke auf den 17. September gerichtet. An diesem Tag soll, laut bisheriger Planung, die nur auf 38 der 150 Abgeordneten gestützte Minderheitsregierung von Premierministerin Sophie Wilmès abgelöst werden.

Einigkeit besteht zwischen den Vertretern der zehn Parteien, die das Kabinett Wilmès Mitte März nach Ausbruch der Coronavirus-Pandemie mit Sondervollmachten ausgestattet hatten, dass Neuwahlen tunlichst zu vermeiden seien. Umfragen deuten darauf hin, dass davon vor allem die politischen Ränder – der rechtsextreme, separatistische Vlaams Belang sowie die linkspopulistische PTB/PVDA profitieren würden. Erleichtern würde dies die Bildung einer handlungsfähigen Regierung nicht.

Zuletzt schien in die sich seit Monaten stockenden Sondierungsgespräche neuer Schwung gekommen zu sein. Tagelang hatten der Vorsitzenden der flämischen Nationalisten (N-VA), Bart De Wever, und der französischsprachigen Sozialisten (PS), Paul Magnette versucht, die 12 Abgeordneten der flämischen Liberalen von ihrer französischsprachigen Schwesterpartei MR und deren 14 Abgeordneten loszueisen und zur Beteiligung an einer 6-Parteien-Koalition zu bewegen. Doch die Strategie verfing nicht. Was die beiden Liberalen vor allem zusammengeschweißt hat, ist die Ablehnung der von der N-VA geforderten Übertragung zusätzlicher Zuständigkeiten auf die Regionen. Neben der Gesundheitspolitik will De Wever, dass die Regionen künftig auch für die Justiz, die Polizei sowie die Arbeitsmarkt- und große Teile der Verkehrspolitik verantwortlich sind. Erhebliche Vorbehalte gegen die institutionellen Pläne De Wevers und Magnettes haben auch die über insgesamt 21 Sitze verfügenden Grünen. Mit ihnen hatten die Vorsitzenden von N-VA und PS ebenfalls Sondierungsgespräche geführt. Aber nicht zuletzt die vorgeschlagene Verschiebung des für 2025 geplanten Atomenergieausstiegs Belgiens, durch verlängerte Laufzeiten für die Meiler Doel 4 und Tihange 3, war und ist für die Grünen unannehmbar.

Bei einem Treffen mit König Philippe am Montag gaben De Wever und Magnette gezwungenermaßen ihren Auftrag zur Regierungsbildung zurück. Lachaertsoll nun vor allem ausloten, ob die Parteien der „Fünferblase“ noch programmatischen Spielraum haben. Anzeichen dafür, dass die flämischen Liberalen ohne ihre Schwesterpartei in eine Regierung einsteigen, gibt es derzeit nicht.

Zunächst scheint Lachaert auf das Prinzip Hoffnung zu setzen. „In schwierigen Zeiten muss die Politik ihre Meinungsverschiedenheiten übersteigen“, erklärte er nach der Annahme des königlichen Auftrags. Wie das, was in 450 Tagen nicht gelungen ist, nun gelingen könnte, ist noch nicht erkennbar. Was allerdings zunimmt, ist der Zeitdruck. Immerhin hat sich Lachaert nicht ausschließlich auf ein Bündnis unter Einschluss der bisher meist verfeindeten Parteien N-VA und PS festgelegt. Ein sogenanntes Vivaldi-Bündnis aus Liberalen, Sozialisten und Grünen beider Landesteile käme unter Einschluss der Christlichen Demokraten auf eine satte Mehrheit von über 90 Sitzen. Während auch bei Open VLD wieder mehr Stimmen für ein solches Bündnis werben, scheinen die flämischen Christlichen Demokraten jedoch weiter unverdrossen auf eine Koalition mit N-VA und PS zu setzen.

BELGA PHOTO JAMES ARTHUR GEKIERE

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