Aktuell, Panorama

Milliardenprojekt mit Bürgernähe

Es ist kaum zu glauben, aber wahr. Dort, wo sich täglich mehr als 90.000 hupende Autos durch hoffnungslos verstopfte Straßen in Richtung Rond Point Schuman, dem Dreh- und Angelpunkt der Eurokratie schieben, wo surrealistisch anmutende EU-Bauten hochgezogen werden, die Luft zum Schneiden ist und ein Lärm schlimmer als auf Brüssels internationalem Flughafen herrscht, säumten einst prächtige Bürgerhäuser und gesunde Bäume die beschaulichen Straßen.

Von den einstigen Prachtstraßen, der Rue de la Loi, der Rue Belliard, der Rue d´Arlon, Rue Royale sowie dem Leopoldviertel, wo sich der belgische Adel und großbürgerliche Familien trafen und wo sich König Leopold II. auf Kutschfahrten entspannte, ist nichts mehr übrig geblieben. Sie alle wurden in Schnellstraßen umfunktioniert, an denen phantasielose Büroblöcke keinen Durchblick mehr erlauben.

“Das wird nun alles anders werden“, versprachen der für die Gebäudepolitik zuständige EU-Kommissar Siim Kallas und Charles Picqué, Ministerpräsident der Region Hauptstadt Brüssel, während einer gemeinsamen Pressekonferenz. Als historisch bezeichneten sie ihre Einigung, dem Europaviertel ein neues Gesicht zu verpassen. Es war die Rede von einer Trendwende, einer gigantischen Neugestaltung mit Grünflächen, Geschäften und einer internationalen Mischnutzung von Bürobauten und der Errichtung von attraktiven Mietshäusern. Pulsieren solle dort künftig das Leben, attraktive Restaurants und Geschäfte zum Einkehren einladen. Das Image eines EU-Verwaltungsghettos ohne Leben und Bezug zur Brüsseler Bevölkerung gelte es endgültig abzustreifen.

Wann die Bulldozer kommen

Erreichen will Kallas das zusammen mit Picqué und einem Entwicklungsplan, der derzeit von einem internationalen Konsortium unter der Ägide des französischen Architekten Christian Portzampare erstellt wird. 2011 sollen sodann im Europaviertel die Bulldozer anfahren.

Tatsache ist, dass dem aus Tallinn stammenden EU-Kommissar überhaupt nicht gefällt, was er beim Verlassen des Berlaymonts so sieht. „Ich finde das gesamte Umfeld fürchterlich. Was wir im Europaviertel brauchen, sind mehr Grünflächen. Die finde ich erst, wenn ich zum Parc Royal spaziere“, sagt Kallas, der sich Brüssel mit seiner Ehefrau am liebsten zu Fuß erläuft. In einem festgesteckten Perimeter, genauer rund um die Rue de la Loi bis zur Chaussée d´Etterbeek soll die „grüne“ Erneuerung ihren Einzug halten. So soll die Rue de la Loi, heute eine gefährliche „Rennbahn“, umgeben von seelenlosen Bürosilos, in eine fußgängerfreundliche Zone mit Geschäften und vielfältiger Benutzung der Bürohäuser inmitten von Grünflächen umgewandelt werden. Solch eine globale Vision habe bislang gefehlt.

1997 beschlossen die Mitgliedstaaten in Amsterdam, Brüssel zum Hauptsitz der Europäischen Kommission zu machen. Bei mehreren Gelegenheiten legten sie sodann ihre gebäudepolitischen Ziele fest. Diese beinhalteten eine rationelle Verteilung der Dienste, bessere Arbeitsbedingungen für die EU-Bediensteten, verstärkten Erwerb von Gebäuden sowie die Intensivierung des Dialogs mit den belgischen Behörden. Dass man sich mit diesen zusammensetzte und in Sachen Gebäudepolitik sogar eine gemeinsame Task Force ins Leben rief, hatte etwas mit dem (belgischen) Bürgerzorn zu tun, der sich gegen die ungebremste, sowie phantasielose Bauwut der EU, breit machte.

Mammut-Mieter

Denn als Mieter von mehr als 80 Mammut-Gebäuden sowie einer stattlichen Anzahl gekaufter Immobilen, die sich mittlerweile bis zum Brüssel Flughafen Zaventem verteilen, ist die Europäische Gemeinschaft, die die Immobilienpreise in Brüssel und Umgebung in die Höhe treibt, vielen Belgiern schon längst ein Dorn im Auge.

Dabei hatte die Europäische Gemeinschaft in Brüssel einst klein und bescheiden begonnen. Im Jahr 1968 setzen sich etwa 3.000 EU-Beamte auf den Ruinen des ehemaligen Berlaymont-Klosters ein Denkmal. Kaum waren die Arbeiten an dem Koloss aus Glas und Stahl beendet, da sprossen der Ministerrat und weitere EU-Gebäude nicht nur in dem Brüsseler Stadtteil Etterbeek wie Steinpilze aus der Erde.

Als dann hinter den Wänden des Berlaymont Asbest entdeckt wurde, mussten 1990 dreitausend Eurokraten ihre Schreibtische räumen. Zu diesem Zeitpunkt rotierten Brüsseler Baukräne erst recht, zumal internationale Immobilienmakler das große Geschäft witterten. Die Berlaymont-Gestrandeten wurden in über 15 Gebäude verteilt. Obwohl Europas Elite nun wieder im renovierten Berlaymont residiert, wurde keins der angemieteten Gebäude aufgegeben. Im Gegenteil: der für Immobilien zuständige EU-Kommissar Siim Kallas bemüht sich weiter um den Erwerb neuer Grundstücke oder geeigneter Immobilien.

Weitere 17800 Quadratmeter benötigt

Wegen der EU-Erweiterung brauche er weitere 17 800 Quadratmeter Bürofläche alleine im Europaviertel bis zum Jahr 2009, hatte er bereits im Sommer 2008 angekündigt. Dabei belegen die EU-Organe zusammen in Brüssel Büroflächen von 1.9 Millionen Quadratmetern, das sind im Europaviertel etwa 80 Prozent der gesamten Bürofläche.

Wie kein anderer Kommissar je zuvor betonte Kallas gleichwohl, dass diese Ausdehnung nur in Absprache mit belgischen Behörden und mit der Akzeptanz der Brüsseler erfolgen solle. Ein schöneres Europaviertel schwebe ihm vor, ein Viertel weg vom Ghetto-Image, hin zum belgischen Miteinander. Und die Brüsseler Region war bereit, ihren Teil dazu beizutragen. So schrieb sie einen städteplanerischen Wettbewerb aus, dessen Zuschlag ein internationales Konsortium erhielt.

400.000 Quadratmeter Bürofläche für die Europäische Kommission und 180.000 Wohnfläche wird das Konsortium im Europaviertel unter seine städteplanerische Lupe nehmen. Liegt der Plan in etwa drei Monaten vor, so wird die Kommission hinsichtlich ihrer Baupläne eine Entscheidung im Rahmen eines Architektenwettbewerbs treffen. Dabei ist es kein Geheimnis, dass die Gebäudepolitik im Europaviertel darauf abzielt, die kleineren EU-Dienststellen in funktionellen Gebäuden mit einer Größe von mindestens 50 bis 100 000 Quadratmetern zusammenzufassen. Der Verkehr in der Rue de la Loi werde dennoch nicht lahmgelegt, da man sich für die Bauarbeiten, die im Jahr 2011 starten, fünfzehn Jahre Zeit nehmen werde.

Im Vorfeld werden zu den Bauplänen kritische Stimmen laut. Von einem Manhattan auf der Rue de la Loi wird gesprochen, während böse Zungen behaupten, dass sich die EU ein symbolkräftiges Denkmal setzen möchte. Eine ähnliche Meinung vertritt die Europaabgeordnete Inge Gräßle, die in einer schriftlichen Anfrage eine detaillierte Aufklärung über die Immobilienpläne der EU, die sehr undurchsichtig seien, verlangt. Ein besonderes Dorn im Auge ist ihr dabei nicht nur der geplante „new look“ des Europaviertels, sondern die Tatsache, dass die Europäische Kommission ihre Liegenschaften über ganz Brüssel verstreut, und in diesem Zusammenhang auch das Heysel-Areal im Nordwesten der Stadt prüfe.

Im Interesse europäischer Steuerzahler

So glaubt sie zu wissen, dass die zuständigen belgischen Behörden bereits die notwendigen Voraussetzungen für solch eine Verlagerung geschaffen haben. Hinzu kämen die Kosten für den Umzug tausender Kommissionsmitarbeiter für die Dauer des Ausbaus der nötigen Infrastruktur. „Ein solches Milliardenprojet kann die Kommission schon im Interesse europäischer Steuerzahler unmöglich allein hinter verschlossenen Türen entscheiden,“ monierte sie, während Siim Kallas keinen Zweifel, aufkommen lässt, dass er dem Europaviertel eine (edle) europäische Symbolkraft im Sinne der Bürgernähe verleihen wird.

Fotos: Johannes Wachter

 

Autor: Von  Heide Newson

Leave a Comment

Ihre E-Mail-Adresse wird veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

*

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.