Aktuell, Belgien

Eine schallende Ohrfeige mit Folgen

Foto: J. Klute

Von Michael Stabenow.  Der Protest hat sich gelohnt. Zwei Tage, nachdem tausende Menschen in Brüssel ihrem Ärger über die Schließung von Kultureinrichtungen Luft verschafft hatten, musste die belgische politische Führung zurückrudern. Der Staatsrat, der als höchstrichterlicher Instanz über die Einhaltung des Rechts wacht, gab einer Beschwerde eines Theaterproduzenten statt.

Die vom Konzertierungsausschuss von Föderal- und Regionalregierungen kurz vor Weihnachten mit der Eindämmung der Corona-Pandemie gerechtfertigte Schließung von Kulturstätten sei nicht nur „unverhältnismäßig“, sondern auch „unzureichend begründet“, befand der Staatsrat.

Am Mittwoch, gut 24 Stunden nach der allgemein als schallende Ohrfeige für die Regierenden gewerteten richterlichen Entscheidung, machte der digital tagende Konzertierungsausschuss die unlängst getroffenen Entscheidungen für den Kulturbetrieb förmlich rückgängig. Nicht nur Theater, sondern auch Konzertsäle sowie Kinos dürfen im Regelfall wieder bis zu 200 Besucher einlassen – mit Masken- und Sitzplatzpflicht.

Schon unmittelbar nach den jüngsten Beschlüssen (Covid in Belgien: Schärfere Beschränkungen, aber noch (?) kein Lockdown – Belgieninfo)  hatte sich lautstarker Protest erhoben. Gemutmaßt wurde, dass die politische Führungsspitze vor der Lobby der Restaurants und Cafés eingeknickt sei und deshalb, um nicht den Eindruck der Halbherzigkeit zu erwecken, willkürlich Einschränkungen des Kulturbetriebs verfügt habe. „Glühwein schlägt Kultur“, hatte der Löwener Virologe Marc Van Ranst im Fernsehsender VRT, sarkastisch moniert. Er ist Mitglied des beratenden Expertengremiums GEES/GEMS. In dessen jüngsten Empfehlungen war von einer sofortigen Schließung von Theatern, Kinos oder Opernhäusern nicht die Rede gewesen.

Wie berichtet (Tausende im Kulturkampf – Belgieninfo),  waren am Sonntag in der Hauptstadt mindestens 5000, nach Angaben der Veranstalter sogar 15000 Menschen, darunter auch Parlamentarier aus den Reihen der „Vivaldi“-Koalition, aus Protest gegen die Beschlüsse auf die Straße gegangen. Nicht nur Van Ranst, auch der renommierte Brüsseler Epidemiologe Marius Gilbert hatte Unverständnis für die vorweihnachtlichen Beschlüsse. Er hatte von Vertrauensbruch und Willkür gesprochen.

Tatsächlich hatte das Expertengremium unter Berücksichtigung der geringen Infektionsgefahr in gut belüfteten Verantaltungssälen strengere Vorkehrungen nur für den Fall einer gravierenden Zuspitzung der Pandemie zur Diskussion gestellt. Ein weiteres Treffen des Konzertierungsausschusses ist für Ende kommender Woche vorgesehen. Sollten dann die Infektionszahlen wegen der derzeit zu beobachtenden Ausbreitung der Omikron-Variante zu stark angestiegen sein, könnte das Thema von Beschränkungen des Kulturbetriebs daher wieder aktuell werden. Aber so weit ist es noch nicht.

So bleibt derzeit der Eindruck einer erratisch verfahrenden politischen Führungsspitze. Selbst die dem Konzertierungsausschuss nicht angehöhrende stellvertetende Regierungschefin Petra De Sutter (flämische Grüne) und Paul Magnette, der mächtige Parteichef der französischsprachigen Sozialisten(PS), gingen öffentlich auf Distanz.

Der selten um klare Worte verlegene Genter Politikwissenschaftler Carl Devos, Dauergast flämischer Medien, lästerte auf Twitter, die Entscheidung vor Weihnachten sei „anscheinend durch niemanden getroffen worden“. Alle schienen vielmehr froh darüber zu sein, dass der Staatsrat den Konzertierungsausschuss zurückgepfiffen habe.

In der VRT warnte Devos jedoch auch eindringlich vor  möglichen Folgen der jüngsten Eskapade des Konzertierungsausschusses. Ihm gehören nicht nur der liberale Premierminister Alexander De Croo und führende Mitglieder der Föderalregierung, sondern auch die Chefs von insgesamt fünf Regionalregierungen an. „Es herrscht ein Mangel an Führung und Vision. Es bedarf dringend der Besinnung – sonst befürchte ich, dass wir uns auf Wahlen im Jahr 2024 zubewegen, bei denen die jetzige Verärgerung sich zeigen wird“, sagte Devos.

Eine Reihe von Folgen – neben der Wiedereröffnung von Kulturbetrieben – hat der Wirbel um die jüngste, vom Staatsrat kassierte Entscheidung bereits. So hat der erfolgreiche Einspruch vor dem Staatsrat Begehrlichkeiten anderer von der Schließung betroffenen Branchen wie Sportveranstalter oder Betreiber von Bowling-Hallen geweckt.

Zum anderen gibt es Überlegungen, die Funktionsweise des Konzertierungsausschusses zu überdenken. So existieren Überlegungen, Fachminister zu den Beratungen der Regierungsspitzen hinzuziehen. Jean Faniel, Direktor des Forschungszentrums CRISP, verwies gegenüber dem Rundfunksender RTBF darauf, dass die Föderalregierung in bestimmten Fällen ähnlich verfahre und Staatssekretäre zu Beratungen hinzuziehe – allerdings ohne Stimmrecht.

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