Politik

Ein belgischer Krimi

Von Marion Schmitz-Reiners.

Belgien hat einen Krimi allererster Güte hinter sich. Die Protagonisten: Premier Charles Michel von den frankophonen Liberalen MR und Bart De Wever, Parteivorsitzender der flämisch-nationalistischen Partei N-VA. Die Handlung: Alle vier Regierungsparteien hatten nach zweijährigen Verhandlungen beschlossen, den Migrationspakt der Vereinten Nationen zu unterzeichnen; eine Woche vor der Verabschiedung im marokkanischen Marrakesch schlug die N-VA einen schwindelerregenden Haken. Der Klimax: Die N-VA hat sich aus der Regierung herauskatapultiert. Vorläufiges Ende: Belgien hat nun eine Minderheitsregierung.

Bis Samstagabend war Charles Michel Chef einer Viererkoalition, bestehend aus N-VA, MR, den flämischen Christendemokraten CD&V und den flämischen Liberalen (Open VLD). Nun ist er Premier einer Dreierkoalition beziehungsweise Minderheitsregierung. Das ist das Ergebnis einer der chaotischsten Wochen in der jüngeren Geschichte des Königreichs.

Aus Gründen, über die man bis jetzt nur rätseln kann, hatte die N-VA, die die Verhandlungen und damit die Zustimmung zum Vertrag seit 2016 mitgetragen hatte, seit November eine Kehrtwendung um 180 Grad vollzogen. Der Pakt würde der Einwanderung Tür und Tor öffnen, warnte urplötzlich die größte Partei Belgiens. Der Kontinent würde überspült von Flüchtlingen. Die Grenzen Europas würden fallen.

Fremdenfeindliche Plakate

Sonntagabend sollte Michel nach Marrakesch fliegen. Mitte der Woche stellte Bart De Wever seinem Premier ein Ultimatum: Wenn er flöge, um den UN-Mitgliedsstaaten offiziell seine Zustimmung zum Migrationspakt zuzusichern (der erst am 19. Dezember in New York unterzeichnet wird), steige seine Partei aus der Regierung aus.

Beratungen in den unterschiedlichsten Gremien wechselten einander in hohem Tempo ab. Donnerstag versuchte Michel sich aus der Affäre zu ziehen: Er flöge als Regierungschef, aber auch „im eigenen Auftrag“. Rätselraten auf der ganzen Linie: Was wollte er damit sagen?

In der Zwischenzeit waren extrem fremdenfeindlich Plakate auf der Facebook-Seite der N-VA erschienen, die sich in nichts von Wahlplakaten des rechtsextremen Vlaams Belang unterschieden und kurz darauf wieder entfernt wurden. (Unser Titelbild zeigt das fremdenfeindliche N-VA-Plakat: “UN-Migrationspakt = Bewahrung der Kultur der Einwanderer im Fokus“. Das Foto wurde im deutschen Monschau geschossen.) Dies mag dazu beigetragen haben, dass Michel sich seiner Sache sicherer wurde. Samstagabend trat abermals ein Ministerrat zusammen. Nach eine halben Stunde verließ die N-VA die Sitzung. Bart De Wever berief eine Pressekonferenz ein und wiederhole sein Ultimatum, nicht ohne sich ebenfalls zu winden: „Ich muss zugeben, dass wir zu spät die rote Karte gezeigt haben.“ Kurz darauf gab Michel vor der versammelten Presse eine Erklärung ab: Er flöge nach Marrakesch, und zwar als Vertreter der belgischen Regierung. Die für ihn nur noch aus drei Parteien bestand, denn gleichzeitig kündigte er die Zusammenarbeit mit der N-VA auf.

Diesmal bediente er sich keine rätselhaften Formulierungen mehr. Vor der Weltpresse stand ein souveräner Mann, der dem Versprechen seines Landes an die UN treu geblieben war: „Ein Wort ist ein Wort.“ Das Wort, das man der UN gegeben hatte.

Sonntagmorgen nahm der König die Entlassung von drei N-VA-Ministern und zwei Staatssekretären an. Sonntagabend um kurz vor acht stieg das Regierungsflugzeug mit Premier Michel an Bord in Melsbroek auf.

Pokerspiel der N-VA

War die N-VA sich bis zum letzten Augenblick sicher, Michel würde einknicken, um seine Regierung zu retten? Dann hatte sie zu hoch gepokert: Michel wusste sich der Zustimmung aller belgischen Parlamentsabgeordneten außer denen der N-VA sicher.

Warum hatte sie gepokert? Vermutlich an erster Stelle, weil sie sich bereits voll und ganz im Wahlkampf-Modus befindet: Im Mai 2019 wird ein neues föderales Parlament gewählt und die Partei will die Wähler zurückgewinnen, die sie bei der Kommunalwahl im Oktober dieses Jahres an den Vlaams Belang verloren hatte. An zweiter, weil sie sich unentbehrlich wähnte, was auch an der Person von Bart De Wever liegt, der bis Oktober von Wahlsieg zu Wahlsieg geeilt war. An dritter, weil sie voll und ganz auf die Trumpfkarte Theo Francken gesetzt hatte, der sich wegen seiner scharfen Migrationspolitik und seinen aggressiven Twitterberichten der Zustimmung des „kleinen Mannes“ sicher war.

Michel verspielte keine Sekunde Zeit. Bereits Sonntagmittag standen zwei neue Minister fest, die die entlassenen Minister für Inneres (Jan Jambon), für Finanzen (Johan Van Overtveldt) und für Verteidigung (Sander Loones) sowie die Staatssekretäre für Asyl und Migration und für Armutsbekämpfung ersetzen. Außerdem stehen nun 200 Kabinettsmitarbeiter auf der Straße.

Vielleicht doch Kalkül?

Man darf sich einigermaßen sicher sein, dass die N-VA mit diesem Ausgang nicht gerechnet hat. Oder doch? Denn man kann nicht ausschließen, dass ihre Demarche Kalkül war. Nun hat die Partei, die ihre Felle wegschwimmen sah, fünf Wahlkampf-Monate lang Zeit, sich als Retter der flämischen Identität, aber auch der europäischen Grenzen zu profilieren.

Ein neuer Krimi beginnt. Michel leitet nun eine Minderheitsregierung, die für jede Entscheidung die Zustimmung von Abgeordneten der Opposition braucht. Aber auch er kann sich profilieren. In Marrakesch wird er gewiss Energie tanken. Denn wie hätte Belgien dagestanden, wenn das Land des europäischen Entscheidungszentrums den gleichen Weg beschritten hätte wie beispielsweise Ungarn oder Österreich?

Info: Zu diesem Thema ausführlicher die Konrad-Adenauer-Stiftung mit einem Länderbericht:

https://www.kas.de/laenderberichte/detail/-/content/belgiens-regierung-verliert-ihre-mehrheit

3 Comments

  1. Alfons van Compernolle

    Sehr geehrte Frau Schmitz-Reiners, es freut mich zu Lesen , dass Sie meine sogenannten “Gutmensch-Kommentare” auch auf Ostbelgien Direkt gerne Lesen. Sie moechten Wissen wer ich bin, Ok ! Ich bin kein Vlaame , wohl aber seit meiner Geburt Belgier, ich bin ein echter Hamburger ( aber nicht aus der Lapampastube Mac.D) ! Ich gehoere zu den 68er’n , die in HH
    das SALZ ( Sozialistisches Arbeiter & Lehrlingscentrum) mit aufgerichtet haben , aber auch die
    “Fabrik in HH.-Altona ! Nein ich bin kein Kuenstler, sondern mehrfacher Dipl.Ing. und Handwerksmeister und nunmehr seit 2 Jahren Rentner !! Ja, ich bin Mitglied der SP.a Gent , aber auch der SPD Ortsverband Bruessel ! Nein, ich habe keine extremen Ansichten / Gedanken betr. Karl Marx und sein Kapital , sondern eben diese Thesen angepasst an die heutige Zeit und Problematik , halte ich eine ehrliche und dem Menschen zugewandte / dienliche sozialistische Gesellschaftsstruktur ( man bezeichnet den Sozialismus neuzeitlich ja auch als “Sozialdemokratie”) notwendiger als jemals ( nach 1945 ) zuvor !
    Dieses auch im Hinblick auf die geschichtliche Tatsache, dass bis zum heutigen Tage auch die
    damaligen / heutigen sogenannten “Sozialistischen-Gesellschaften” unehrliche menschenverachtende Diktaturen sind. Ich bin als Sozialist nicht “fixiert” auf eben alleine einer
    nur Linken Ausrichtung ! Links ( SPD/SP.a etc) haben nicht die goettliche Allwissenheit in die Wiege gelegt bekommen. Das haben der / die Parteivorstaende von mir schon mehrfach auf’s Brot geschmiert bekommen. Jede Partei hat in ihren politischen Programmen durch aus auch das eine oder andere positive dem Menschen helfende Vorhaben stehen.
    Ich bin ein alter “Sozi” stimmt, aber im Gegensatz zu vielen meiner Genossen und den Neo-Nazi-Nationalisten , wie NVA & VB. kann ich mir durch aus vorstellen einen Koenig als Staatsoberhaupt einer sozialistischen Belgischen Gesellschaftstruktur zu haben.
    Ich finde wir haben einen ehrlichen und intelligenten und somit charaktervollen Koenig, der so gut es ihm moeglich ist “nicht abgehoben ist , sondern schlicht menschlich bleibt!
    Anbei, ich lehne jegliche Abspaltung “Republik Vlaanderen” schlicht ab, Belgien muss , soll und wird das bleiben was es ist eine Einheit von Eupen bis Oostende und von Zelzate bis Kortrijk.
    Die NVA verblendet die Menschen nicht nur , die NVA & die VB versucht mit neuzeitlichen
    propagandistischen NS.-Methoden die Menschen zu verdummen, diesen Staat unser Belgien
    kaputt zu machen ! Michels Schuld ist, dass er sich mit der NVA hat eingelassen um PM zu werden! Michel ist kein dummer Mensch, aber sich mit der NVA & oder VB einzulassen ist dumm und hat Konsequenzen, wie man sieht !! Der Migartionspakt ist eine gute Sache, wenn auch nur eine Halbe , in anbetracht des vielen Elends & Leid , den auch unsere verkauften Waffen in den verschiedenen Laendern verursacht haben / verursachen! Nicht jeder Moslem ist ein Terrorist, die meisten sind anstaendige Menschen und Hilfe vom reichen Westen mehr als nur dringend angezeigt ist! Anbei jede Religion , auch die christlichen , haben durch charakterlose Theologen jede Menge Leid & Elend ueber Menschen gebracht , selbst noch in der Neuzeit ( wenn wir mal an die massenhafte Kinderschaenderei denken) !
    Was BDW anbelangt, sind wir beide sicherlich einer Meinung !
    Eine ganz andere Sache ist die Ueberganzverguetung welche z.B. Jan Jambon & Theo Francken
    erhalten sollen 450.000 Euro ! Das nenne ich ungerechtfertigte Bereicherung, unabhaengig welcher Partei der jeweilige Politiker angehoert !!

  2. Lieber Herr Van Compernolle,
    ich lese immer gerne Ihre Kommentare auf Belgieninfo und Ostbelgien Direkt. Eigentlich würde ich ja gerne einmal erfahren, wer Sie sind. Aus Ihren Kommentaren schließe ich, dass Sie Flame und Sozialdemokrat sind und im Raum Gent wohnen. Wir sind uns wohl darüber einig, dass die N-VA die Menschen verblendet. So ist die Regierungskrise in Brüssel neuerdings ausschließlich die Schuld von Premier Michel! Als ob der Rückzug der N-VA aus dem Migrationspakt, den sie mit unterhandelt hat, nicht der Anlass gewesen wäre! Aber das wissen BDW und Konsorten gut zu bemänteln. Man könnte depressiv werden!
    Marion

  3. Alfons van Compernolle

    Die N-VA behauptet viel , wenn der Tag lang ist ! Wobei meistens immer nur das behauptet oder als Gut & Positiv fuer das Land angesehen wird , was in anderen EU.-Laendern an meist ultrarechten Neo-Nationalismus auftut ! B.D.W. als Historiker sollte eigentlich Wissen , dass noch kein “rechter” oder “linker” Nationalismus einem Land oder der Voelkergemeinschaft irgendwie
    im positiven Sinne geholfen hat! Leid – Elend und Krieg waren die Folgen.
    Egoistischer Nationalismus siehe DDR und Israel siehe neuzeitlich USA laest “MAUERN” wachsen und Raketen fliegen !! In Bruessel spielt sich kein “politischer” Krimi ab , sondern nationalistische Gehirnlosigkeit !

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