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Belgien vor der Regierungsbildung

Die föderale Regierungsbildung in Belgien kommt auf die Zielgerade. Bis zum 14. Oktober, wenn das Parlament zum ersten Mal nach der Sommerpause zusammentritt, soll die neue Regierung stehen. Einen Tag später sind auch die Budgetzahlen für 2015 bei der Europäischen Union vorzulegen. Entgegen dem Trend in den Nachbarländern wird Belgien in Zukunft von einer liberal dominierten Mitte-Rechts-Koalition regiert werden, in der drei liberale Parteien gemeinsam mit einer christdemokratischen Partei Belgien für die kommenden Jahre fit machen wollen.

Das heißt zunächst: Die nationale Verschuldung muss wieder unter 100 Prozent des Bruttosozialprodukts sinken. Dafür müssen die Renten gesichert und die Sozialausgaben begrenzt werden. Mit 66 liberalen von 150 Abgeordneten insgesamt, stellt sich die Frage, ob es dieser Koalition gelingen kann, das sprichwörtliche belgische Durchwursteln durch alle Fährnisse der Zeiten zu beenden und das Land auf einen klaren Reformkurs zu führen.

Vor einem heißen Herbst?

Notwendig wäre es. Die Arbeitslosenzahlen steigen wieder. Di Rupo hatte zu seinem Glück in seinen vier Jahren ein starkes Deutschland an seiner Seite. Die Zukunft sieht nicht mehr so rosig aus, Hilfe aus dieser Richtung ist weniger zu erwarten. In Belgien sind die Arbeitskosten nach wie vor zu hoch, die gesetzlichen Regelungen bei Einstellung und bei der Steuer zu kompliziert, das reale Renteneintrittsalter zu niedrig und die gesellschaftliche Einsicht in die Notwendigkeiten von Reformen ähnlich hoch wie in Frankreich. Am letzten Wochenende wurde von der Koalition zum zweiten Mal die Rentenpolitik geprüft. Frühverrentungen sollen eingeschränkt, das reale Renteneintrittsalter angehoben werden. Die Polizisten, die bisher bei bestimmten Voraussetzungen mit 54 bzw. 58 Jahren in Pension gehen können, streiken schon. Corporate Belgium hat der Regierung einen heißen Herbst versprochen. Wie in Deutschland wird diskutiert, ob man es kleinen Einzelgewerkschaften schwerer machen soll, mit Einzelaktionen große Segmente der Gesellschaft lahmlegen zu können.

Am kommenden Wochenende soll das Budget aufgestellt werden, eine Verlängerung der Frist ist aber wahrscheinlich. Für die nicht an der Regierung beteiligten frankophonen Christlichen Demokraten und Humanisten (CDH) paktiert in der neuen Regierung der Teufel mit dem Beelzebub. Zum ersten Mal seit der Föderalisierung Belgiens wird eine eiserne Regel gebrochen. Es wird auf der frankophonen Seite keine eigene Parlamentsmehrheit geben. Bisher hatte jede Koalition innerhalb ihres sprachlichen Lagers ebenfalls eine Mehrheit gesucht. Dieses Mal wollte kein Frankophoner außer dem MR mit den Flamen ins Bett steigen. Schuld daran ist zweierlei. Die NVA wird Teil der Regierung sein und der PS wird draußen bleiben. Für den CDH war das zu viel. Ohne seinen großen roten Bruder wollten weder Benoit Lutgen noch Joëlle Milquet auf föderaler Ebene dabei sein. Ihnen genügte es, in der Wallonie und in Brüssel in eine Koalition mit der PS einzutreten. Frau Milquet wechselte den Stuhl der Innenministerin mit dem Amt der Kultusministerin und stellvertretenden Ministerpräsidentin in der Wallonie. Es ist das Ressort, das über das größte Budget verfügt. Die letzte Staatsreform hat den Spielraum für die Regionen so sehr erweitert, dass für viele die Hauptmusik schon hier spielt.

Kein Traumjob: Premierminister

So ist es auch nicht verwunderlich, dass niemand offen das Amt des Ministerpräsidenten angestrebt hat. Das größte politische Schwergewicht, Bart De Wever, will Bürgermeister in Antwerpen bleiben, ein enger Parteifreund, Geert Bourgeois, führt die flämische Regierung. Bart de Wever fürchtet die nationale Verantwortung. Parteiprogramm, Rhetorik und Wählerschaft gebieten einen Abstand zur Föderalregierung. Die NVA hat sich allerdings verpflichtet, von der Forderung nach weiteren Staatsreformen in dieser Legislaturperiode Abstand zu nehmen. Dies war Voraussetzung für die Regierungsbildung von frankophonen und flämischen Liberalen und den flämischen Christdemokraten mit der NVA. Kritik an der neuen Regierung will De Wever aber von außen und nicht von innen üben können. Als Ministerpräsident könnte er genau dies nicht.

Die belgische Öffentlichkeit hat die Koalition zunächst Kamikaze-Koalition benannt, weil man sich sicher gab, dass der MR als einzige frankophone Partei nur verlieren könne. Doch seit dem Frühjahr nimmt die Zustimmung der Wähler zum MR weiter zu. Seitdem wird die Koalition die „schwedische“ genannt. Gemeint ist die konservative Koalition, die in Schweden gerade abgewählt wurde. Didier Reynders lässt sich denn auch mit Studien über die schwedische Steuerpolitik fotografieren. Schweden hat seit vielen Jahren Haushaltsüberschüsse. Seine Rolle in der zukünftigen Regierung wird vor allem durch seinen Parteivorsitzenden Charles Michel bestimmt werden. Der konnte ihn vor kurzem nicht als EU-Kommissar durchsetzen, was Reynders gerne geworden wäre. So muss er sich weiter mit den Niederungen der belgischen Politik befassen, die er schon lange kennt. Er wird Außenminister bleiben, kann aber auch Finanzminister werden.

Charles Michel steuert das Amt an, das offiziell keiner haben will. Er wird als der nächste Premierminister gehandelt, aber offen beschlossen ist noch nichts. Dass ein paar Tage lang spekuliert wurde, dass Reynders wieder Parteivorsitzender werden wolle, zeigt, dass Charles Michel nur eine Chance hat. Er muss ein erfolgreicher Regierungschef werden oder einen herben Rückschlag für seine politische Karriere einstecken. Michel ist noch jung und fürchtet deshalb das Risiko nicht. Belgien hat seit vielen Jahren zum ersten Mal wieder die Chance, echte wirtschaftliche Reformen durchzuführen.

Setzt Charles Michel diese in der belgischen Gesellschaft durch und gelingt es ihm, Belgien für die nächsten zehn, zwanzig Jahre richtig aufzustellen, kann er zu einem der großen in der belgischen Politik werden. Scheitert er, wird er nur Wasser auf die Mühlen von Bart de Wever lenken.

Autor: Christoph Nick

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