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Les Magritte de Cinéma: Belgischer Surrealismus Live

indexVon Angela Balsen-Franz. 

Der belgische Film gewinnt im Inland wie auch international immer mehr Anerkennung. Kein Wunder, dass es seit 2011 auch in Belgien eine Filmpreisverleihung wie in den Nachbarländern gibt. Aber à la belge ist alles ziemlich anders, und 2016 war es einfach surreal.

Samstagabend, 19:00 Uhr, am Eingang des großen alten Kinopalastes UGC an der Place de Brouckere: ein blauer geraffter Vorhang über blauem Teppich und blaues Licht signalisieren, dass hier der Eingang für die passionierten Cineasten ist. Und die stehen Schlange, als bunt gemischtes Völkchen aller Altersgruppen und Milieus. Denn in Brüssel dürfen die Kinofreunde mitfeiern, wenn die kleine Szene der Filmschaffenden sich im „The Square“ feiern lässt. Ein Begleitprogramm zur offiziellen Gala macht es möglich, dass etwa 740 Cineasten im stilvollen Ambiente des großen Saals im UGC per Live-Übertragung an der Zeremonie zur Preisverleihung teilhaben, Sekt schlürfen und Häppchen verzehren können. Und das alles für 12 Euro, die Sponsoren – allen voran BNP Paribas – machen’s möglich.

Die Einspielung beginnt mit Trailern der nominierten Filme, dann sind wir mitten im Geschehen am Square: Dort rufen zwei Stewardessen das Publikum zum Anschnallen auf, und von der Decke schwebt der Moderator des Abends herab: der Film- und Fernsehschauspieler Charlie Dupont. Ein lautes, schräges Blasorchester versammelt sich auf der Bühne, ein fast karnevalistischer Einstieg, der von der ersten Sekunde an klar macht: dies wird keine bierernste Veranstaltung.

Marie Gillain

Aber eine innenpolitisch brisante mit vielen surrealen Momenten. Ist die Eröffnungsrede der Präsidentin des Abends, Schauspielerin Marie Gillain, noch eine Liebeserklärung an ihr kleines Land, die Frites und das Bier, werden danach die Unsäglichkeiten belgischer Regierungspolitik auf die Schippe genommen. Der Wettstreit zwischen Flamen und Wallonen scheint in fast jeder Zwischenmoderation und in etlichen Danksagungen der Preisträgerinnen und Preisträger auf, und sei es unterschwellig, wenn Flamen eingestehen, dass sie keine Dankesrede auf Französisch halten können auf einem Fest, das dem französischsprachigen belgischen Film gewidmet ist.

Flamen bei den Wallonen, unerhört

Und genau da steckt das Unerhörte, das die frankophonen Zeitungen am Montag zum Eklat hochschreiben: Der Filmpreis „Magritte de Cinéma“ soll die französischsprachigen Filmproduktionen Belgiens ins Licht der Öffentlichkeit bringen. Vergeben wird er von Mitgliedern der Académie André Delvaux, die aus allen Bereichen der belgischen Filmindustrie stammen. Diese ignorierten die implizierte Grenzziehung innerhalb der Filmlandschaft und vergaben die Preise für die besten Schauspieler an zwei Flamen: Veerle Baetens (Un début prometteur) und Wim Willaert (Je suis mort mais j’ai des amies), obwohl es auch einen flämischen Filmpreis gibt, den „Ensor“. Baetens antwortete darauf, dass das Kino eben keine Grenzen kenne und man hoffe, dass sich dies in die Gesellschaft hinein fortsetze. Und Willaerts setzte drauf: „Belgier sein, heißt verrückt sein, ganz egal ob Flame oder Wallone“.

Jaco Van Dormal

Die verrücktesten Ideen hat Regisseur Jaco Van Dormal in dem Film realisiert, der der Gewinner des Abends ist: Le Tout Nouveau Testament, die Geschichte vom fiesen Gottvater, der sich in einem Brüsseler Hochhaus freudig die Hände reibt, wenn er sich Plagen und Katastrophen für die Menschheit ausdenkt. Bis seine Tochter und seine Frau eingreifen …. Surrealismus pur, in Brüssels Straßen, auf Plätzen und am Kanal aufs Herrlichste in Szene gesetzt! Der Regisseur wird so oft auf die Bühne gerufen (bester Film, beste Regie, bestes Drehbuch), dass er für eine der Preisübergaben offensichtlich keine Sätze vorbereitet hat. Also spricht der kleine dicke Mann einfach Dada und sagt nada, also nichts, was Sinn macht. Surrealismus live!

Natürlich hat der Abend auch seine Längen, da die Szene von Produzenten, Regisseuren und Schauspielern überschaubar ist, und man ständig in dieselben Gesichter schaut. Da helfen Highlights wie das Intermezzo mit den Komikern Dany Boom und Kad Merat, die virtuos vorführen, was die geplante belgische Sprachreform für Wortschöpfungen mit sich bringen würde.

Wer einmal erkunden wollte, was es mit der belgischen Filmlandschaft im Spannungsfeld der Idiome auf sich hatte, der kam auf seine Kosten. Und hatte am Schluss das Gefühl, er dürfe sich keine der belgischen oder belgisch-französischen Filmproduktionen entgehen lassen, die in Verbindung mit den Preisen kurz vorgestellt wurden: „Melody“ (beste Nachwuchsschauspielerin, Lucie Debay), „Tous les chats son gris“ (bestes Erstlingswerk, Savina Dellicour), „Alleluja“ (beste Bildbearbeitung, bester Ton, bestes Szenenbild) und „L’homme, qui repare les femmes (bester Dokumentarfilm) sowie „La famille Bélier“ (beste belgisch-ausländische Koproduktion). Und nicht zu vergessen „D’Ardennen“, Preisträger für den besten flämischen Film.

Aber erstmal gab es als Zugabe für die Kinofreunde noch um Mitternacht ein Preview einer belgisch-internationalen Koproduktion, den Film „Le Mirage d’Amour“, ein bittersüße Liebesgeschichte aus der Atacama-Wüste in Chile zur Zeit des Stummfilms. Dafür kam die wunderschöne Marie Gillain sogar zu den Filmfreunden ins Kino.

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